Nein, Ratten und Spinnen gibt es hier nicht!

Roland Schreyer berichtet am Willibrord-Gymnasium über die spektakuläre Flucht seiner Familie aus der DDR

Es ist das Jahr 1987: Roland Schreyer ist Familienvater und arbeitet an einer Berufsschule als Lehrkraft im Bereich der kommunistischen Erziehung. Doch er ist alles andere als überzeugt vom politischen System und sieht vieles, was er im Bekanntenkreis miterlebt, kritisch. Das führt dazu, dass er auch seine schulische Arbeit immer weiter hinterfragt und zu dem Schluss kommt, in dieser Diktatur, die auf einer Vielzahl von Lügen basiert, nicht mehr leben zu können.

Gemeinsam mit seiner Frau entscheidet Schreyer, dass er einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik stellt. Eine fingierte Hochzeit in der westdeutschen Familie wird von der DDR als Ausreisegrund akzeptiert und so begibt er sich auf den Weg nach Bottrop. Wie abgesprochen, kehrt er allerdings nicht zurück zur Familie, sondern seine Frau und sein Vater stellen ebenfalls einen Ausreiseantrag. Diesmal mit dem Wunsch der Familienzusammenführung. Dem wird von der DDR-Führung jedoch nicht stattgegeben. Im Gegenteil: Nun wird starker Druck aufgebaut. Erst sollen Frau und Vater versuchen, Schreyer zu überzeugen, doch noch in die DDR zurückzukehren, dann wird probiert, die Familie in der DDR immer weiter einzuschüchtern. Der Vater verliert beispielsweise seinen Job, die Frau wird mehrfach von der Stasi verhört. Dies führt dazu, dass Herr Schreyer nur noch die Möglichkeit einer Flucht sieht, um seine Familie zu ihm in den sicheren Westen zu bringen.

Bis zu seinem 24. Lebensjahr hatte Schreyer im Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze gelebt. Er wusste daher, dass die Grenze stark abgesichert war, aber er erinnerte sich auch an einen kleinen Fluss, die Wirbke, die kanalisiert unter der Grenze hindurchführte. In der Hoffnung, dass dieser Kanal als Fluchtweg dienen könnte, machte er sich in einer Aprilnacht im Jahr 1988 auf zu einer Erkundung. Wie zu erwarten, war der ca. 500m lange Kanal immer wieder durch Metallgitter gesichert, aber es gelang ihm, die Absperrungen so zu bearbeiten, dass eine Flucht mit seiner Frau, seinem Vater und seiner 10jährigen Tochter denkbar erschien.

Auf Umwegen gelang es Roland Schreyer, seine Familie von den Plänen in Kenntnis zu setzen und als für den 1. Juni auch noch schlechtes Wetter vorausgesagt worden war, wurde beschlossen, die Pläne in die Tat umzusetzen. Gegen Mitternacht kroch er daher wieder durch den Kanal von der westdeutschen Seite in die DDR und wartete auf seine Familie. Nach einer Stunde des bangen Ausharrens mit der ständigen Sorge doch noch erwischt zu werden, konnte Herr Schreyer aufatmen und seine Frau, seinen Vater und seine Tochter in die Arme schließen. Doch jetzt mussten sie so schnell wie möglich den Rückweg antreten und die Tochter, die zuvor nicht gewusst hatte, was passieren würde, hatte Angst, den Kanal zu betreten. Erst nach der kleinen Notlüge: „Nein, Ratten und Spinnen gibt es hier nicht!“ war sie bereit, ins Wasser zu steigen.

Hintereinanderher kriechend, mit den Händen an den Knöcheln des jeweils anderen, legte die Familie den Weg durch den Kanal zurück und kam sicher auf der westdeutschen Seite an, um dort die Polizei zu verständigen. Nach ausführlicher Befragung der Familienmitglieder, der Vater von Herrn Schreyer hatte beispielsweise bei der Grenzpolizei gearbeitet, sodass sich der Verfassungsschutz wichtige Informationen versprach, durfte die Familie dann weiterreisen zur Verwandtschaft nach Hannover.

Roland Schreyers Ausführungen vor den interessiert zuhörenden Schülern verdeutlichten immer wieder, dass es sich letztlich um großes Glück handelte, dass die Aktion so gut verlaufen und kein Familienmitglied verletzt oder verhaftet worden war. Rückblickend resümiert er daher auch, dass wenn er gewusst hätte, dass die Mauer 1989 fallen würde, er niemals so weit gegangen wäre. „Doch die Flucht,“ so Schreyer, „ist letztlich aus der Not geboren.“ Ein weiteres Ausharren in der Diktatur oder ein Leben ohne die Familie wären nicht denkbar gewesen.

(Text: Astrid Haumer; Fotos: Amerie Mes)